Tutorial für Sachverständige
von Judith Arnscheid und Reinmar du Bois
Kinder im Hochkonflikt – ein Beispiel
Ein Vater ruft während des laufenden Begutachtungsprozesses völlig empört und in Sorge bei der Sachverständigen an. Er benötige dringend einen Termin, es sei etwas Entsetzliches vorgefallen, er sei in großer Sorge und müsse mit seinen Söhnen sofort vorbeikommen. Als er am Tag darauf mit seinen beiden Söhnen erscheint, berichtet er, dass die Kinder auf keinen Fall länger bei der Mutter leben könnten, er sei nicht bereit, sie wieder zu ihr zu lassen. Nach dem Grund befragt erzählt er, dass die Mutter den Hamster des jüngsten Sohnes bei lebendigem Leib verbrannt habe. Zu einer Frau, die zu so etwas in der Lage sei, könne er seine Söhne auf keinen Fall zurückgeben, das müsse die Sachverständige doch verstehen. Alleine mit der Sachverständigen bestätigen die Kinder zunächst die Geschichte des Vaters: der Hamster sei verbrannt. Dann aber erzählt der jüngste, dass er den Hamster eines Morgens tot in seinem Käfig gefunden habe. Er sei sehr traurig gewesen und habe den Hamster beerdigen wollen. Der ältere Sohn ergänzt, dass das aber nicht gegangen sei: die Wohnung, in der sie mit der Mutter leben würden, habe keinen Garten, nur einen Balkon. Die Mutter habe das Tier im Hausmüll entsorgen müssen – habe aber erzählt, dass der Hamster im Müllheizkraftwerk eine Feuerbestattung bekomme und seine Hamsterseele mit dem Rauch in den Himmel aufsteigen würde. Das habe den jüngsten Sohn auch irgendwie getröstet. Als er das dem Vater am Umgangswochenende dann aufgeregt habe berichten wollen, habe der gar nicht richtig zugehört, sondern sei gleich „ausgeflippt“.
Eigentlich sollte man meinen, dass sich diese Situation ganz einfach und anders hätte lösen lassen : ein Anruf bei der Mutter, wie das mit dem Hamster wirklich gewesen sei, hätte genügt. Wie kommen Menschen dazu, sich so absurd zu verhalten und wie geht es den betroffenen Kindern damit? Laienhaft ergibt sich die Frage, ob Menschen, die in solchen Konflikten verharren, nicht in jedem Fall unter psychischen Störungen leiden, und ob es denn möglich sei, psychisch gesund zu sein und dennoch die eigenen Emotionen nicht reflektieren zu können und unfähig zur nüchternen Aufklärung zu sein? Weitere Fragen schließen sich an: Könnte jeder, der im Dauerstreit lebt, in gleicher Weise entgleisen? Wie können Kinder in diesem Spannungsfeld gesund heranwachsen? Ist ein gesundes Heranwachsen überhaupt möglich? Oder ist mit einer solch konflikthaften Kindheit bereits der Grundstein für Probleme im Erwachsenenalter gelegt? Würde es den Kindern nicht sogar besser gehen, wenn man verhindern würde, dass sie überhaupt bei den streitenden Eltern aufwachsen oder wenn man zumindest den Kontakt zu einem der beiden Eltern unterbinden würde?
Herkunft der psychischen Auffälligkeiten bei den Eltern
Fairerweise ist festzuhalten, dass nur ein sehr kleiner Teil von Eltern, deren Beziehung kaputt geht und deren Wege sich trennen, in einem derart hoch eskalierten Konflikt stecken bleibt. Gerade diese Fälle sammeln sich jedoch in der gutachterlichen Praxis. Bevor der Schritt zu einem ersten Gutachten getan wird, dann gegebenenfalls zu einem zweiten, wurden oft bereits die Helfersysteme und die Gerichte ergebnislos beansprucht. Vergeblich wurde nach Wegen gesucht, wie trotz der Streitigkeiten der Eltern das gesunde Aufwachsen der davon betroffenen Kinder gesichert werden könnte.
Die Forschung der letzten Jahre zeigt, dass Eltern, die über lange Jahre gerichtliche Auseinandersetzungen führen und eskalierend miteinander streiten, häufiger als der Durchschnitt unter psychischen Problemen oder Auffälligkeiten leiden. Es heißt, sie seien weniger offen für neue Erfahrungen und hätten ein geringeres Selbstwirksamkeitserleben in ihren Beziehungen (vgl. Fichtner 2012). Es heißt weiterhin, dass sie ihre trennungsbedingten Emotionen nicht regulieren könnten. Möglicherweise hat es ihnen schon immer an den notwendigen Bewältigungsstrategien im Umgang mit negativen Emotionen gefehlt. Sie könnten von Natur aus rigider in ihren Denkstrukturen und schon immer stärker fixiert auf die eigenen Ansichten und Feindbilder gewesen sein. Es heißt, sie seien nur eingeschränkt in der Lage, sich in den anderen Elternteil oder in die Bedürfnisse der Kinder hineinzuversetzen. Sie würden sich eher als hilflos erleben. In ihren Handlungsmöglichkeiten erlebten sie sich als eingeschränkt. Diese Einschränkungen machten es ihnen enorm schwer, sich mit der neuen Lebenssituation nach dem Auseinanderbrechen der Familie zu arrangieren. Die Gefühle von Wut, Enttäuschung oder Hass über den ehemaligen Partner bleiben so dominant, dass daraus massive Zweifel an der elterlichen Kompetenz des Partners erwachsen. Dieser Zweifel können sie sich nicht erwehren. Dem Partner wird nur das Schlimmste zugetraut.
Anders wäre es auch kaum zu erklären, dass - wie im berichteten Bespiel - der eine Partner die Handlungsweise des anderen so gründlich missversteht. Es stellt sich die Frage, ob jemand, der solchen Missverständnissen aufsitzt, in anderen Lebensbereichen überhaupt noch gut funktionieren kann, also abseits des Konfliktes überhaupt noch über gesunde Anteile verfügt?
Es lässt sich in vielen Fällen nicht abschließend klären, wann die psychischen Einschränkungen der Eltern begonnen haben. Sie könnten schon bestanden haben, bevor die Eltern in ihre jeweilige Partnerschaft eingetreten sind. Dies würde verständlicher machen, warum in der Folge ein so hohes Konfliktniveau zustande kommt. Es ist aber auch der umgekehrte Fall denkbar, dass nämlich erst die besondere Natur des Paarkonflikts zum Auftreten der psychischen Problemen führt. Es liegt ja nahe, dass ein Dauerkonflikt nicht spurlos an den betroffenen Personen vorbeigeht.
Psychische Folgen für die Kinder
Nicht selten werden die Kinder in diese Konflikte einbezogen und instrumentalisiert. Die Eltern halten sich gegenseitig für nicht erziehungsgeeignet. Sie argwöhnen, das Kind werde aufgehetzt, oder der/die PartnerIn vernachlässige oder missbrauche das Kind. Die Lösung des Konfliktes wird stets darin gesehen, dass der andere etwas ändern müsse oder dass der Kontakt ganz abgebrochen werden müsse.
Dadurch, dass es den Eltern nicht gelingt, sich in der neuen Wirklichkeit nach der Trennung einzufinden, wird dies natürlich auch den betroffenen Kindern erheblich erschwert. Das elterliche Spannungsfeld wird von den Kindern als Dauerstress erlebt und bindet psychische Ressourcen, die sie eigentlich für ihre gesunde Entwicklung benötigen würden. Dadurch, dass der Konflikt die Eltern so nachhaltig beschäftigt und belastet und sie in negativen Emotionen festhält, haben sie auch weniger emotionale Kapazität, die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen und sensibel darauf zu reagieren. Die Unversöhnlichkeit ihrer Eltern empfinden die betroffenen Kinder als ausgesprochen belastend. Diese Belastung begleitet die Kinder dieser Eltern oft über viele Kindheitsjahre.
In der Folge sind diese Kinder oft psychisch stärker eingeschränkt als Kinder aus intakten Familien und auch stärker als die meisten anderen Trennungskinder. Diese finden sich nach der Trennung der Eltern alsbald in einer neuen Familienwirklichkeit zurecht, weil die Eltern sich in ihrer elterlichen Funktion weiterhin miteinander austauschen. Kinder aus Hochkonfliktfamilien haben hingegen häufiger Probleme mit dem Selbstwert, sie leiden häufiger unter Trennungs- oder Verlustängsten, sind aggressiver oder oppositioneller oder werden depressiv. Auch, wenn die Eltern diese Verhaltensauffälligkeiten und Belastungssymptome an ihren Kindern durchaus wahrnehmen, sind sie dennoch nicht in der Lage, die Ursachen für die Belastung – nämlich den dauerhaften Paarkonflikt – zutreffend einzuschätzen: Sie machen den jeweils anderen für die Problematik des Kindes verantwortlich. Am Ende kommt das Kind nicht umhin, den Kontakt zu einem der Eltern abzubrechen oder sich wechselweise mit einem der Eltern zu überwerfen oder zu verbünden und zwischen den Eltern zu pendeln.
Konsequenzen für die Begutachtung
Einem nicht ganz geringen Teil der Aufträge, die wir erhalten, insbesondere jenen in Umgangsverfahren, liegen die hier beschriebenen chronischen Streitfälle zugrunde. Das heißt, sie betreffen Paare, die - gemessen an üblichen Trennungsverläufen - ihre Konflikte längst beigelegt haben müssten, damit aber scheitern. In der einschlägigen Literatur hat sich der Begriff des "Hochkonflikts" zur Definition dieser Fallgruppe herausgebildet. Die berufliche Beschäftigung mit Eltern, die über Jahre in einem hoch eskalierten Konflikt gefangen bleiben und um sich selbst kreisen, fordert Jugendämter, Gerichte und am Ende auch Sachverständige zu besonderen Leistungen heraus. Diese Fälle sind Musterbeispiele dafür, wie wichtig es ist, dass die eigenen professionellen Standards nicht ausgehebelt werden. Das Festhalten an stets gleichen Prozeduren, die Konzentration auf die bei den Kindern erhobenen Befunde und auf die komplizierte Situation der Kinder, die Fokussierung auf den erteilten Auftrag des Gerichts und die Beachtung einer strengen Symmetrie des Dialogs mit den Parteien bietet GutachterInnen den wichtigsten Schutz vor Vereinnahmung und vor einem Verlust ihrer Urteilskraft. Unsere Gutachtenstelle, aus der diese Blogs entstammen, ist sich im Hinblick auf diese Fallgruppe der Bedeutung ihres neutralen, institutionell geprägten und professionellen Rahmens besonders bewusst. In die Blogs gehen jahrzehntelange Erfahrungen ein. Die meisten Texte richten sich an KollegInnen, die Aufträge zur Begutachtung übernommen haben. Einige Blogs richten sich in gleicher Sache sogar an die Betroffenen selbst - in der Hoffnung, dass diese durch die Lektüre zu einer besseren Zusammenarbeit mit den Sachverständigen gelangen.
Fichtner, J. (2012). Hilfen bei Hochkonflikthaftigkeit? Forschungsergebnisse zu Merkmalen und möglichen Interventionen in belasteten Nachtrennungsfamilien. ZKJ, 46-54.
Dietrich, P. S., Fichtner, J., Halatcheva, M., Sandner, E. & Weber, M. (2010). Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien: Eine Handreichung für die Praxis. Deutsches Jugendinstitut e.V.
Bke Stellungnahme (). Beratung von Hochkonflikt-Familien im Kontext des FamFG.
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