Folge 17
Tutorial für Justiz und Sachverständige
von Reinmar du Bois
Anpassungen der Methodik bei der Erstellung der Gutachten
Prüfungen auf das Vorkommen sexuellen Missbrauchs in Familien – im Kontext von familienrechtlichen Auseinandersetzungen über den Aufenthalt eines Kindes oder über den Besuchsverkehr - haben einige methodische Besonderheiten, wenn man sie mit der Methodik anderer familienpsychologischer Gutachten, aber auch wenn man sie mit der Methodik klassischer aussagepsychologischer Gutachten vergleicht, wie sie beispielsweise zur Beweissicherung bei Geschädigten von sexuellen Gewaltdelikten durchgeführt werden.
Die Abweichung von sonstigen Gutachten im Familienrecht besteht darin, dass aussagepsychologische Methoden implementiert werden, d.h.
a) die kindliche Aussage nach den Regeln der Aussagepsychologie erhoben wird,
b) besonderes Augenmerk auf die Verdachtsentstehung gelegt und
c) Alternativhypothesen[1] gebildet werden, die dann anhand der kindlichen Äußerungen zu entkräften sind.
[1] Alternativhypothesen sind zu prüfende (und ggf. zu widerlegende) Vermutungen, auf welchem Weg und vor welchem Hintergrund der Verdacht eines Missbrauchs aufgekommen sein könnte, ohne dass ein tatsächlicher Missbrauch stattgefunden hat.
Die Abweichung von klassischen Begutachtungen zur Glaubhaftigkeit besteht darin, dass
a) der in Verdacht geratene Elternteil
b) die Interaktion zwischen diesem und dem Kind
in die Untersuchungen einbezogen wird.
Diese hybride Gutachtenvariante, in die zum einen Methoden der Glaubhaftigkeitsprüfung und zum anderen familienpsychologische Expertise einfließen, empfiehlt sich sowohl als Grundlage für familienrechtliche Entscheidungen wie auch als wichtige Orientierungshilfe in einem parallel eingeleiteten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft.
Warum sind die genannten Anpassungen notwendig?
1. Der intrafamiliale Missbrauch – hier gemeint als Missbrauch durch eine biologische oder soziale Elternfigur – ist stets eingebettet in primäre Bindungen des Kindes an den Missbraucher. Diese Missbrauchsform definiert sich, was seine psychischen Auswirkungen angeht, nicht durch einmalige oder mehrmalige Übergriffe auf ein Kind, sondern durch einen die gesamte psychische Entwicklung des Kindes begleitenden und auf diese Entwicklung einwirkenden Prozess. Dessen ungeachtet wird der Missbrauch oft an einzelnen, erstmalig aufgedeckten Handlungen festgemacht. Sie kommen irgendwann ans Licht, weil das betroffene Kind den Täter denunziert.
2. Der einem Kind durch den angezeigten Missbrauch - genauer: durch die Art der vorausgegangenen missbräuchlichen Beziehung - zugefügte psychische Schaden entspricht nicht dem, was im Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS bzw. PTSD) als „Trauma“ verstanden wird. Bei einem solchen müsste das Kind durch ein- oder mehrmalige konkrete Ereignisse in seiner emotionalen und kognitiven Erlebnisverarbeitung überwältigt, überfordert und hilflos gemacht worden sein und aufgrund dessen einschlägige Symptome entwickelt haben. Die Risikoabschätzung bei innerfamiliärem Missbrauch gehorcht jedoch anderen Regeln. Die in der „Traumatherapie“ verwendeten auf konkrete Erlebnisse fokussierten Verfahren können nicht wirksam eingesetzt werden. Sie verfehlen das anders gelagerte Thema des hier angerichteten Schadens: den erlernten Reflex des Kindes (und späteren Erwachsenen), sich auszuliefern und ausnutzen zu lassen, um Liebe und Zuwendung zu erhalten.
3. Die kindliche Aussage reicht zur alleinigen Aufklärung des Missbrauchsverdachts in der Regel nicht aus: Kindliche Aussagen sind allzu oft in Fällen des familialen Missbrauchs entweder gar nicht zu gewinnen, undeutlich, ausweichend oder mehrdeutig und erfüllen keine ausreichenden Glaubhaftigkeitskriterien (Realkennzeichen – Erlebnisbezug – Konstanz usw.).
Die Aufklärung der Sachverhalte, die einen mutmaßlichen Schaden beim Kind angerichtet haben könnten, verlangt vielmehr folgende Methodik:
a) notwendige Einbeziehung (nicht wie sonst: Ausklammerung) des in Verdacht geratenen Elternteils in Form einer direkten Befragung zum Verdachtsfall, zur Eltern-Kind-Beziehung und zum Aufwachsen des Kindes, auch mit Erforschung der Persönlichkeit und ihrer Biografie.
b) notwendige Durchführung einer beobachteten Zusammenführung mit dem in Verdacht geratenen Elternteil (Interaktionsbeobachtung)[2].
[2] - immer vorausgesetzt, dass der in Verdacht geratene Elternteil zur Mitwirkung bereit ist, was normalerweise der Fall ist.
Zum besseren Verständnis: Wenn die Glaubhaftigkeitsuntersuchung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens in Auftrag gegeben würde, müsste sich die Untersuchung auf das kindliche Opfer beschränken und wäre hierdurch eines in diesem Spezialfall des Missbrauchs wichtigen Erkenntnismittels beraubt. Die schädlichen Einwirkungen eines Elternteils auf das Kind lassen sich erst in der Interaktion, also nur im Beziehungskontext, vollständig und zutreffend erfassen. Die Untersuchung der Interaktion, die ja im familienpsychologischen Gutachten ohnehin ein notwendiger methodischer Baustein ist, gewinnt zur Prüfung eines Missbrauchsverdachts zusätzliche Bedeutung. Diese Bedeutung ist methodisch gesetzt und unabhängig von pragmatischen Überlegungen des Familiengerichts, ob betreute Umgänge des in Verdacht geratenen Elternteils mit dem Kind zur Überbrückung angeordnet werden oder ob hiervon bis zur Klärung des Sachverhaltes Abstand genommen wird.
Einwände gegen die Durchführung einer Interaktionsbeobachtung
Im Rechtsstreit wird von Parteienseite oft vorgetragen, dass der/die GutachterIn, indem er/sie auf einer Interaktionsbeobachtung bestehe, a) eine Re-Traumatisierung des Kindes riskiere und b) sich dem Verdacht der Befangenheit aussetze. Hiergegen ist vorzubringen:
a) Die Befürchtung einer Re-Traumatisierung verweist irrtümlich auf das Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung und verkennt den besonderen Charakter (siehe oben) der hier gemeinten psychischen Beschädigung eines Kindes. Der anzunehmende Schaden wäre im zutreffenden Fall durch den tragischen und komplexen Umstand charakterisiert, dass er sich innerhalb enger und wichtiger Beziehungen ereignet hätte.
b) der Vorwurf der Befangenheit würde voraussetzen, dass dem/der GutachterIn (fälschlich) unterstellt würde, er/sie habe durch die Zusammenführung des in Verdacht geratenen Elternteils das Urteil, dieser sei für das Kind ungefährlich, bereits vorweggenommen. Es würde irrtümlich unterstellt, ein/e GutachterIn, der/die den Missbrauch „ernst“ nehmen würde, hätte auf eine Zusammenführung aus Respekt vor der Gefahr einer „Re-traumatisierung“ verzichten müssen. Richtig ist jedoch, dass kinder- und jugendpsychologische GutachterInnen den verdeckten Charakter jedes innerfamiliären Missbrauchs sehr deutlich, d.h. deutlicher als jede andere Profession, „auf dem Schirm“ haben und besonders gut wissen, welche Familienkonstellationen und welche Verhaltensmuster bei Tätern und Opfern vorkommen, welche Prüfschritte erforderlich sind, um diesen besonderen Spielarten des Missbrauchs auf die Spur zu kommen. Familienrechtliche Gutachter/innen wissen zugleich aber auch, welche methodischen Vorkehrungen notwendig sind, um objektiv urteilen zu können und Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Aus diesen Gründen müssen familienpsychologische Gutachter im so gelagerten Verdachtsfall an der Methodik der Interaktionsbeobachtung festhalten.
Selbstverständlich kann die Beobachtung des Zusammenspiels zwischen einem in Verdacht geratenen Elternteil und seinem Kind nicht nur Belege liefern, die den Missbrauchsverdacht stützen
... beispielsweise anhand einer auffälligen Sexualisierung des Kindes im spontanen Interaktionsverhalten zur elterlichen Verdachtsperson oder anhand eines auffälligen Innehaltens („Einfrierens“) bei Wiederbegegnung mit dieser Person. Weitere Besonderheiten des Verhaltens können hinzukommen.
sondern auch Befunde, anhand derer ein Missbrauch und ein dem Kind daraus entstandener Schaden unwahrscheinlich gemacht wird und gegebenenfalls nahezu ausgeschlossen werden kann. Letzteres wird möglich, wenn sich anhand der Beobachtungen der Interaktion mit dem in Verdacht geratenen Elternteil Beziehungsfiguren und spontane Reaktionen zeigen, die weder mit einer eingewöhnten sexualisierten Beziehung, noch mit einem vorausgegangenen seelisch erschütternden Übergriff vereinbar sind, wenn sich überzeugende Alternativen zur Erklärung des Zustandekommens eines unrichtigen Verdachts abzeichnen und wenn inhaltlich keine Aussagen des Kindes zu gewinnen sind, die einer aussagepsychologischen Prüfung zugeführt werden können. Gutachter sind jedenfalls qualifiziert, Befunde in beide Richtungen ergebnisoffen zu erheben: Befunde, die auf den Verdacht gerichtet sind wie auch Befunde, die den Verdacht entkräften, ohne sich durch eine bestimmte Nachforschung dem Verdacht der Befangenheit auszusetzen.
Verfahrenstechnische Empfehlungen
Vorrang der familiengerichtlichen Begutachtung: Nur die Befolgung der methodischen Schritte einer familienrechtlichen Begutachtung vermag die einem innerfamiliären Missbrauch zugrundliegenden Prozesse und Muster aufzuklären, während die alleinige Anwendung aussagepsychologischer Methoden nicht zum Ziel führen würde. Oft liegt das Scheitern einer aussagepsychologischen Aufklärung daran, dass vom betroffenen Kind überhaupt keine wörtlichen Äußerungen erhältlich sind, die als inhaltliche Grundlage und Ausgangspunkt einer Überprüfung dienen könnten. Oder aber eventuelle Äußerungen des Kindes sind so geartet, dass fraglich ist, ob es sich dabei auf ein tatsächliches eigenes Erleben bezieht. Somit hängt die Risikoeinschätzung wesentlich von der Gesamtwürdigung der kindlichen Lebensumstände, des kindlichen Verhaltens und der Beziehungsgestaltung ab.
Auch in Fällen, bei denen eine polizeiliche Anzeige erstattet wurde, sollte die aussagepsychologische Beurteilung sinnvollerweise an das familienrechtliche Verfahren angebunden bleiben, beziehungsweise in diesem Kontext bearbeitet werden, weil nur hier alle Befunde erhoben werden können, mit denen die Verdachtsentstehung validiert und das (oft fehlende oder untypische) Aussageverhalten des Kindes eingeordnet werden kann. Einer/m Gutachter/in, der/die mit ähnlicher Fragestellung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren beauftragt würde, wären die Hände gebunden, was die (eigentlich notwendige) Einbeziehung des Elternteils betrifft, dem der Missbrauch vorgeworfen wird. Die Aussagepsychologie würde hierbei in Bezug auf die psychologische Gesamtsituation, unter der das Kind lebt, partiell blind bleiben und widrigenfalls falsch negative oder falsch positive Schlussfolgerungen ziehen. Fazit: Aufklärung zu der sehr speziellen Frage, ob sich ein Kind durch einen seiner biologischen oder sozialen Eltern in Gefahr befindet, in der sexuellen Integrität beschädigt zu werden, ist vorrangig von Gutachten zu erwarten, die das Familienrecht in Auftrag gibt und nicht von Nachforschungen, die die Staatsanwaltschaft anstrengt.
Kindliche Aussage mit aussagepsychologischer Methodik erheben: Die Exploration des Kindes zum Missbrauchsvorwurf muss selbstverständlich den anerkannten aussagepsychologischen Standards genügen. Die Aussagepsychologie kann entweder durch eine hinzugezogene (und ebenfalls beauftragte) Fachkraft im Ergänzungsgutachten durchgeführt werden oder - bei ausreichender Fachkunde - durch den/die primär beauftragte/n familienrechtliche/n Gutachter/in selbst erledigt werden. In jedem Fall bedarf es einer integrativen Zusammenschau beider Teile des Gutachtens.
Auftrag zur Prüfung der Gefährdung des Kindes breit anlegen: Wenn es das Familiengericht schon bei Auftragserteilung aufgrund eigener Erkenntnisse für wenig wahrscheinlich hält, dass eine kindliche Aussage zum sexuellen Missbrauch überhaupt zu gewinnen sein wird, und/oder wenn das Familiengericht zweifelt, ob die alleinige Fokussierung auf den Missbrauchsverdacht die Aufklärung eventuell vorliegender Notlagen des Kindes voranbringen wird, kann es ins Ermessen der beauftragten Experten stellen, ob sie eine formale aussagepsychologische Untersuchung durchführen oder darauf verzichten, letzteres, wenn die Anknüpfungspunkte für eine Aussagepsychologie nicht ausreichen. Das Gericht kann von vornherein weitere Fragen in den Auftrag aufnehmen, die allgemeiner auf Risiken und Gefahren für das Kind abheben, und die Frage anschließen, ob diese von der Persönlichkeit der Eltern und ihrer Beziehungsgestaltung zum Kind herrühren.
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