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Lösungsorientierte Gutachten - Folge 14

Tutorial für Gutachter und Betroffene

von Reinmar du Bois





Unterschiedliche Praxis


Der Gesetzgeber erwartet, dass GutachterInnen lösungsorientiert arbeiten. Die Erwartung gilt auch, wenn das lösungsorientierte Vorgehen nicht ausdrücklich im Beweisbeschluss des Gutachtens erwähnt wird. Bereits der gesunde Menschenverstand besagt, dass jeder Streit nach Lösungen verlangt und außenstehende Personen als Vermittler hilfreich sind. Von Gutachtern werden aufgrund ihrer hohen Fachlichkeit nicht nur analytische Fähigkeiten, sondern auch besonders starke Wirkungen als Vermittler erwartet. Lösungsorientierte Gutachten sollen demnach nicht nur Lösungen benennen, sondern diese den Parteien auch – nun in therapeutischer Mission – nahebringen und für Akzeptanz sorgen. Diese Mission verlangt einen Paradigmenwechsel und einen Wechsel des Rollenverständnisses. Trotz dieser Schwierigkeit kann die Mission gelingen - vor allem, wenn die Parteien noch miteinander reden und die betroffenen Kinder zu beiden Parteien rege Kontakte unterhalten. Streitpunkte, die sich gut lösungsorientiert bearbeiten lassen, betreffen vor allem Einzelfragen des Sorgerechts: Die Erlaubnis einer Auslandsreise, die Wahl einer Schule oder Schulform, Entscheidungen für medizinische Maßnahmen. Lösbare Streitpunkte betreffen gelegentlich auch Ausgestaltungen des Umgangsrechts, wenn dieses nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird: Ferienregelungen, Wochenendregelungen, Übergaben, Zeitaufteilung bei paritätischer Betreuung.

In anderen Fällen kann freilich der Anspruch, dass im Rahmen eines Gutachtens auch Lösungen erarbeitet werden, nicht mehr eingelöst werden! Die Grenzen dieses Anspruchs werden je nach Region früher oder später erreicht. In vielen Metropol-Regionen ist die Helferlandschaft breit ausgebaut. Alle Parteien, die willens und bereit sind, können Mediation, Paartherapie und psychologische Beratung in Anspruch nehmen. In manchen (nicht allen) dieser gut versorgten städtischen Regionen erteilen Familiengerichte daher Aufträge zur psychologischen Begutachtung nur dann, wenn sie unterstellen, dass alle andere Möglichkeiten entweder schon ausgeschöpft wurden oder von vornherein nicht in Frage kommen. Es gelangen daher nur noch hoch strittige Fälle zur Begutachtung.

Andere Gerichte verfahren anders: Sie streuen ihre Gutachtenaufträge breiter und schicken „zur Sicherheit“ auch Fälle zur Begutachtung, die eventuell in einer Mediation ebenfalls zu Lösungen gelangt wären. Als Anlass genügt beispielsweise, dass sich die Parteien trotz der Geringfügigkeit ihrer Streitpunkte bei Gericht schon mehrmals auffällig sperrig und streitlustig gezeigt haben. Die Praxis ist, wie man erkennen kann, sehr uneinheitlich. Erfahrungen aus einer bestimmten Region, mit bestimmten Familienrichtern, mit bestimmten Gutachtern sind nicht vergleichbar mit Erfahrungen mit anderen Familienrichtern, mit anderen Gutachtern und in anderen Regionen. Zur Vermeidung unpassender Vergleiche beschränkt sich dieser Artikel auf hochstrittige Fällen, bei denen außergerichtliche therapeutische Lösungsmöglichkeiten ausgeschlossen wurden.


Wenn in hochstrittigen Fällen immer noch lösungsorientierte Ansätze verfolgt werden sollen, dann haben es auch jene Gutachter, die mit den Standards lösungsorientierten Arbeitens vertraut sind (z.B. nach dem Kochemer Modell), mit Sonderfällen zu tun und müssen sich gut überlegen, ob sie diese Standards überhaupt anwenden können, und wenn ja, wie und mit welchen Modifikationen. Die wichtigste, fast immer gewählte Modifikation besteht darin, mit den Parteien nicht schrittweise Lösungen zu erarbeiten, sondern ihnen lediglich am Ende der Begutachtung einen (fertigen) Lösungs- bzw. Einigungs-“Korridor“ vorzuschlagen. Mit viel Glück können Einigungen innerhalb dieses Korridors tatsächlich zustande kommen. Wenn sich Parteien schon im Gespräch „einigen“, kann die Gutachterin dem Gericht das Ergebnis der Einigung informatorisch mitteilen, eventuell sogar auf das Verfassen eines ausführlichen schriftlichen Gutachtens verzichten, dies aber nur dann, wenn die Parteien ihre Einigung bis zur maßgeblichen Gerichtsverhandlung aufrechterhalten.


Je nach Befundlage und Eigenart der Parteien kann die Gutachterin solche Gespräche mit beiden Parteien gemeinsam oder aber mit jeder Partei einzeln führen. Die Gutachterin kann die Gespräche im Tandem mit einer zweiten Kollegin führen oder aber allein bestreiten. Bei der Tandem-Lösung bieten sich Arbeitsteilungen an: Die Gutachterin kann die Ergebnisse vorstellen, die zweite Fachperson kann die daran anschließende Debatte moderieren. Da wir hier nur auf Fälle mit Hochkonflikt schauen, wird es am häufigsten vorkommen, dass sich die lösungsorientierten Bemühungen auf ein einmaliges Gespräch beschränken. Mehrere Gespräche bieten sich nur an, wenn den Parteien Gelegenheit geboten werden soll, getroffene Vereinbarungen in der Praxis zu erproben. Letzteres Vorgehen sollte aber nur bei konkreten Erfolgsaussichten erwogen werden. Es verlängert den Prozess der Begutachtung und muss mit dem Auftraggeber abgesprochen werden. (Weitere Einzelheiten im Kapitel über „Enttäuschte Hoffnungen“)




Gegenanzeigen


Es versteht sich von selbst, dass die Möglichkeiten für Einigungsgespräche bei Begutachtungen im Hochkonflikt von vornherein nicht nur beschränkt sind, sondern auch vollkommen aussichtslos sein können. Auch wenn der Auftrag ausdrücklich lösungsorientierte Ansätze verlangt, bleibt es im Ermessen der Gutachterin, diesen Teil des Auftrags unerledigt zu lassen, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

wenn -

· - die Parteien unbedingt einen gerichtlichen Entscheid haben wollen.

· - es zwischen den Konfliktparteien ein großes Machtgefälle gibt.

· - sich die Parteien häufig auch als Personen attackieren.

· - die gegenseitigen Schuldzuweisungen massiv sind und eine „dämonisierte Zone“ wächst (der Bereich, für den niemand verantwortlich sein will).

· - die Konfliktparteien nicht mehr in der Lage sind, die Perspektive des anderen zu sehen.

· - die Parteien sogar bereit sind, eigenen Schaden in Kauf zu nehmen, nur um dem anderen zu schaden.


Damit „lösungsorientierte“ Gespräche im Hochkonflikt überhaupt eine sinnvolle Funktion erfüllen, dürfen sie sich ggf. darauf beschränken, die bei der Begutachtung gewonnenen Erkenntnisse lediglich mitzuteilen und zu erläutern. Hierbei kann die Gutachterin immerhin erkunden und protokollieren, wie die Parteien auf die Mitteilung des Ergebnisses reagieren. Auch diese Praxis kann sich jedoch aus Gründen des Kindeswohls verbieten - zum Beispiel im seltenen Fall, wo das das Gutachten eine Maßnahme empfiehlt, mit der eine betroffene Partei überhaupt nicht gerechnet hat: einen Aufenthaltswechsel des Kindes zur gegnerischen Partei. Wenn voraussehbar ist, dass die Reaktion auf diese Mitteilung dramatisch und unkontrollierbar ausfallen würde und keinesfalls im Rahmen weiterer Gespräche mit der Gutachterin aufgefangen werden könnte, möchte die Gutachterin Ihre Empfehlung verständlicherweise erst bekannt geben, wenn die empfohlene Maßnahme auch gerichtlich verfügt und unverzüglich umgesetzt werden kann.



Enttäuschte Hoffnungen


Im Folgenden werden zwei weitere Konstellationen dargelegt, bei denen lösungsorientierte Gespräche scheitern. Beide Fälle handeln von Umgangsverweigerungen. In beiden Fällen werden große Hoffnungen auf die lösungsorientierte Arbeit der Gutachterin gesetzt, die dann enttäuscht werden.


A) In diesem Fall will eine der Parteien ihr Anliegen (die Überwindung der Umgangsverweigerung) auf dem Weg lösungsorientierter Gespräche durchsetzen bzw. will den von der anderen Partei geleisteten Widerstand auflösen. Das Gutachten soll Hebelwirkung erzeugen. Der Begriff „Lösungsorientierung“ ist das Zauberwort, mit dem dieser Hebel bewegt werden soll. Leider hat die Gutachterin aber zum Abschluss der Untersuchung erkannt, dass es nicht im Interesse des Kindeswohls liegt oder zumindest aussichtslos ist, Erwartungen dieser Partei zu erfüllen oder deren Anliegen durchzusetzen. Damit stellt sich dieser Teil des gerichtlichen Auftrags als unerfüllbar dar, bzw. bedient unerfüllbare Erwartungen, läuft dem aus Gutachtersicht für richtig gehaltenen Ergebnis zuwider und verlangt von der Gutachterin verfrüht, in eine Richtung zu marschieren, die sie nach gründlicher Prüfung und Erkundung des Falles gar nicht mehr einschlagen will oder kann.


B) Hier verbindet die Gutachterin selbst (nach Abschluss ihrer Untersuchungen) die lösungsorientierte Vorgehensweise mit der Hoffnung, auf eine umgangsverweigernde Partei so einwirken zu können, dass diese ihren Widerstand aufgibt. Die Gutachterin nimmt die Herausforderung des gerichtlichen Auftrags an, stellt sich insofern schon einmal auf die Seite der umgangsbegehrenden Partei. Während sie ihre Empfehlung im lösungsorientierten Diskurs vertritt, muss sie nun aber erleben, dass die umgangsverweigernde Partei den Beratungsprozess lediglich dazu missbraucht zu beweisen, dass die Gutachterin mit ihrer Empfehlung falsch liegt. Das heißt: der Beratungsprozess (in dem sich die Gutachterin aus der Deckung begeben hatte und selbst an einer Lösung mitwirken und diese ausprobieren wollte) wird zur Demontage der gutachterlichen Expertise missbraucht. Die Gutachterin muss mit ansehen, wie das Scheitern der Umgänge vor ihren Augen quasi bühnenreif „aufgeführt“ wird und damit der von ihr entwickelte Lösungsplan unbrauchbar gemacht wird. Fazit: mit einem Verzicht auf lösungsorientierte Gespräche und mit einer bloßen Empfehlung an das Gericht sowie mit einem darauf fußenden Beschluss hätten größere Hebelwirkungen erzeugt werden können. Die Erfolgschancen wären höher gewesen. Der verweigernden Partei wären keine Spielräume eröffnet worden, bei laufender Begutachtung den Konflikt bewusst oder unbewusst zu verschärfen.


Der Fluch der guten Tat


Gutachter können sich der grundsätzlichen Erwartung, dass sie zur Lösungssuche berufen seien, schwerlich entziehen. Umso wichtiger ist es aber, dass sie Augenmaß wahren, ihre Grenzen erkennen, die in der Doppelfunktion und im Widerstreit zwischen Begutachten und Helfen liegen, und nicht das Unmögliche versuchen oder in jedem Fall von Unmöglichkeit mit sich selbst hadern. Zu bedenken ist, dass ausgerechnet bei Hochkonflikten, bei denen Einigungen kaum erwartbar sind, die Forderung nach „lösungsorientierten Begutachtungen“ als Wunderwaffe gehypt wird. Das Versagen dieser Waffe wiegt umso schwerer, löst nochmals tiefe Enttäuschung aus oder wird der Gutachterin als besonders schweres Versagen angelastet. Erst wird ihre Autorität demontiert, weil sie nicht beweisen kann, dass ihre Empfehlungen funktionieren, dann folgt der Vorwurf ihrer Untauglichkeit im Beratungsprozess. Dem „Hype“ folgt also der Absturz. Diese Dynamik muss durchschaut werden, kann durchschaut werden, was eigentlich auch gar nicht schwer ist.



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