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Begutachtung im Familienrecht - Folge 4: Explorationen

Tutorial für Sachverständige

von Judith Arnscheid und Reinmar du Bois



Übersicht


Ein vollständiges Untersuchungsprogramm sieht neben dem Aktenstudium die gesonderte Exploration beider Eltern und ihrer Kinder und, wenn irgend möglich, die Beobachtung der Interaktionen zwischen den Kindern und beiden Eltern vor.

Für die Exploration der Eltern im Familienrecht gibt es Interviewleitfäden (z.B. in Salzgeber, 2018), die ein festes Gerüst von Fragen vorsehen. Gutachter aus klinisch psychiatrischen und psychotherapeutischen Tätigkeitsfeldern tendieren zu freieren Interviewformaten. Ergänzend zum Interview werden die Eltern bisweilen gebeten, Selbstbefragungsbögen auszufüllen, z.B. den Fragebogen zur Qualität der Eltern-Kind-Beziehung (EBF.KJ).


Das beste Setting für die Untersuchung der Kinder ist ein Zwiegespräch in Abwesenheit der Bezugs- oder Begleitperson. Mehrere Kinder werden am besten erst gemeinsam, dann einzeln befragt. In der gemeinsamen Befragung zeigt sich die Geschwisterdynamik. Methodisch kommen wiederum sowohl freie wie auch strukturierte Gesprächsformate in Betracht. Anschließend kann das Bindungsinterview für die späte Kindheit[1] durchgeführt werden. Eingebettet in das Gespräch eignen sich spielerische projektive Verfahren (Familiensystemtest FAST) oder das "Strukturierte Interview zur Erfassung der Kind-Eltern-Interaktion" (SKEI).

[1] Zimmermann, P. & Scheurer-Englisch, H. (2003). Das Bindungsinterview für die Späte Kindheit (BISK). In: Scheurer-Englisch, H.; Suess, G.J. und Pfeifer, W.-K. P. (Hrsg.). Wege zur Sicherheit – Bindungswissen in Diagnostik und Intervention. Gießen: Psychosozial-Verlag 2003, S. 241-276.



Interviewtechnik Erwachsene


Die Gestaltung der Gespräche liegt in Ihrem Ermessen. Eine Mindestvoraussetzung sollte jedoch sein, dass Sie vorab eine grobe Struktur festlegen. Anschließend sehen Sie dann, ob der Untersuchungsplan eingehalten werden konnte und woran gegebenenfalls die Einhaltung des Plans gescheitert ist. Eine typische Grobplanung kann vorsehen, dass als Erstes die aktuelle Situation erörtert wird, weil der Gesprächsbedarf hier oft am größten ist und sich die Umstände darstellen lassen, die zur Beauftragung des Gutachtens geführt haben. Es wird sich dabei zeigen, ob die Probanden weit ausgreifend erzählen und eingegrenzt werden müssen, oder ob sie den gesetzten thematischen Rahmen einhalten. Als Zweites können Sie die Probanden zu Schilderungen der Entstehung und des Verlaufs ihrer Partnerschaft einladen. In diese Erzählung können Sie Fragen nach der Entstehung der Kinder und deren Aufwachsen einflechten.


Der dritte und letzte Komplex der Befragung erstreckt sich auf die Biografie der Eltern. Sie regen die Probanden dazu an, sich an konkrete Situationen aus früheren Jahren, an die vorherrschenden Betreuungsumstände, an Belastungen und prägenden Erfahrungen der Kindheit zu erinnern und die Ereignisse dabei möglichst wieder aufleben zu lassen. Ein weiterer Fokus des Erinnerns sind eventuelle vorausgegangene Partnerschaften und die Umstände, unter denen diese beendet wurden.

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Rechnen Sie damit, dass nicht wenige Probanden zurückschrecken oder misstrauisch werden, wenn Sie am Ende der Exploration zu ihrer Biographie befragt werden sollen. Erklären Sie, dass persönliche Eigenarten, die sich im Umgang mit den eigenen Kindern und im Konflikt mit dem Partner gezeigt haben, in der Regel schon in der früheren Lebensgeschichte sichtbar geworden sind und dass sich das Verständnis für diese Phänomene anhand der Biografie vertiefen lässt. Argumentieren Sie, dass der Gutachter durch das Wissen um persönliche Vorerfahrungen und charakterliche Eigenarten Anregungen erhält, wie der familienrechtliche Konflikt am ehesten beigelegt werden kann.

Zum Abschluss können Sie die Parteien einladen, Ihre Wünsche und Erwartungen an den Ausgang des Verfahrens vorzutragen. Sie sollten den Termin mit organisatorischen Dingen ausklingen lassen, damit die Probanden, die durch den Gesprächsverlauf zumeist innerlich bewegt worden sind, wieder ins Gleichgewicht kommen können. Es bietet sich an, den weiteren Verlauf der Begutachtung und die nachfolgenden Termine anzusprechen.

Beispielsweise besteht oft Gesprächsbedarf zum Thema der bevorstehenden Interaktionsbeobachtungen. Insbesondere gegenüber Eltern, die sich im Umgangsstreit befinden und Begegnungen ihrer Kinder mit dem Ex-Partner möglichst vermeiden wollen, damit nicht irgendetwas aufgerührt oder aufgewühlt werden könne, müssen Sie die Notwendigkeit dieses Untersuchungsschrittes und dessen fachliche Unbedenklichkeit in aller Entschiedenheit vertreten.

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Als Gutachter haben Sie unterschiedliche Grundstudiengänge absolviert und gehören unterschiedlichen Professionen und unterschiedlichen therapeutischen Schulrichtungen an. Auf der Grundlage einer psychologischen und verhaltenstherapeutischen Ausbildung bevorzugen sie bei den Explorationen einen ausgearbeiteten Leitfaden und zusätzliche Selbstbefragungsinstrumente. Sie wissen zu schätzen, dass durch diese Methodik der Diskurs mit den Parteien versachlicht wird und nichts übersehen wird. Die Methode ist objektivierbar und überprüfbar. Sie nehmen aber in Kauf, dass sie sich eventuell durch viele Fragen hindurcharbeiten und viele Sachverhalte erheben müssen, die mit dem Fall nichts zu tun haben und dass der Diskurs mit den Parteien sperrig geraten kann. Am Ende müssen Sie im Gutachten dann erklären, warum viele erhobene Tatsachen für den konkreten Fall irrelevant sind. Auf der Grundlage einer klinisch ärztlichen und gegebenenfalls auch tiefenpsychologischen Kompetenz werden sie bei den Explorationen eine freiere, sich am jeweiligen Verhalten der Parteien orientierende Explorationstechnik bevorzugen. Sie wissen zu schätzen, dass sich durch diese Methodik Charaktermerkmale, Eigenheiten und psychopathologische Auffälligkeiten der Probanden rascher identifizieren und vertiefen lassen. Sie kommen rascher zum Kern einer Sache und auf den Punkt. Sie nehmen aber in Kauf, dass Sie – vor allem bei mangelnder Erfahrung – etwas übersehen und dass Sie, falls Sie methodisch angegriffen werden, größere argumentative Mühe aufwenden müssen, um die Qualität ihrer Arbeit zu belegen. Sie sind am besten beraten, wenn Sie sich mit wachsender Erfahrung eine eklektische Arbeitsweise aneignen, welche die Vorzüge beider Methoden zu nutzen und die Nachteile beider Methoden zu vermeiden versteht.


Interviewtechnik Kinder


Bevor Sie Ihre Einzelgespräche mit den Kindern beginnen, sollten Sie die Kinder - noch im Beisein der Eltern - mit unseren Anliegen vertraut machen. Dann bitten wir die Eltern auf Abstand. Bereits mit Kleinkindern lassen sich kurze Gespräche allein führen. Die zentralen Fragen sollten auch mit jungen Kindern möglichst direkt und unmissverständlich angesprochen werden. Projektive spielerische Testverfahren sind nützliche Hilfsmittel, um mit ihnen besser in Kontakt zu kommen und sie anzuregen sich mitzuteilen. Auch wenn sich Kinder so geben, als seien sie bezüglich der elterlichen Streitfragen ahnungslos, darf alles, was die Kinder im Beisein des Gutachters tun und äußern, zum Elternstreit in Bezug gesetzt und dementsprechend interpretiert werden. Während Ihrer Termine mit den Kindern bieten sich Tonaufzeichnungen an, weil Sie auf diese Weise wörtliche Äußerungen, auch kleine Randbemerkungen, festhalten und später auf ihre Bedeutung überprüfen können. Im Gespräch können Sie den Kindern so Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und werden durch den Vorgang des Protokollierens nicht abgelenkt.


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