top of page

Grundlagen der Begutachtung im Familienrecht - Folge 6: Das schriftliche Gutachten

  • dubois70
  • 11. Feb. 2022
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 25. Feb.

Tutorial für Sachverständige

von Judith Arnscheid und Reinmar du Bois


Anfangsteil – Methodik


Die einleitenden Kapitel stellen das methodische Gerüst des Gutachtens dar. Sie schildern dort zahlreiche formale und methodische Voraussetzungen Ihrer Arbeit. Bereits das Deckblatt sollte die wichtigsten Eckdaten des Gutachtenauftrages (Auftraggeber, Aktenzeichen, Auftragsdatum und Personalien der Probanden) enthalten. Ein Inhaltsverzeichnis erleichtert vor allem bei umfangreichen Gutachten, wie sie im Familienrecht nicht selten sind, die Übersicht.

Versetzen Sie sich in die Lage der Leser Ihrer 40-80-seitigen (manchmal noch längeren) Expertisen. Dann werden Sie verstehen, dass diese über längere Strecken Ihres Textes im Dunkeln tappen und erst schrittweise erfassen, worum es in dem Gutachten überhaupt geht. Sie tun jedem Leser, der nicht schon vorher in den Fall eingearbeitet ist, einen großen Gefallen, wenn sie Ihrem Gutachten in allgemein verständlicher Sprache einen kurzen „Sachverhalt“ vorausschicken:  

 

Beispiel A: Die Eltern der heute (Zahl)-jährigen (Name) trennten sich vor (Zahl) Jahren und stritten ab (Jahr) erstmals um den Umgang. Diese Auseinandersetzungen wurden ab (Jahr) bis heute in mehreren Verfahren fortgeführt. Ab (Jahr) verweigerte (Name) Übernachtungsbesuche, ab einem Vorfall am (Datum) erklärte (Name) durchgehend bei Befragungen, dass sie den Vater nicht mehr besuchen wolle.

Beispiel B: Die Eltern der heute (Zahl)-alten (Name) streiten seit ihrer Trennung (Jahr) über den Umgang des Kindes mit ihrem Vater. In gleicher Sache wurde (Name) bereits (Jahr) von (Name der Gutachterin) begutachtet. (Name) sträubte sich schon damals gegen Begegnungen mit dem Vater. Es folgten umfangreiche gerichtliche Auseinandersetzungen, die bis heute andauern. Es wird über die Gründe der Umgangsverweigerung, über geeignete Maßnahmen und über die Eignung der daran beteiligten Personen gestritten. Die Mutter strebt einen Umgangsausschluss an, der Vater (bei Fortdauer der Verweigerung) einen Aufenthaltswechsel des Kindes bzw. eine Inobhutnahme.

Beispiel C) Der heute (Zahl) jährige (Name) war am (Datum) wegen wechselhafter und unberechenbarer Verhaltensweisen der Mutter im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit und bei ungeregeltem Umgang des Kindes mit Personen aus dem Trinker- und Obdachlosenmilieu sowie bei akuter Verweigerung der weiteren Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in Obhut genommen worden. Er befindet sich nach vorausgegangenen Aufenthalten in zwei Kindergruppen derzeit in (Name der Einrichtung). Die Mutter beantragt die Rückführung ihres Kindes zu sich.


Die vom Auftraggeber formulierte Fragestellung sollte eingangs wörtlich aufgeführt werden. Aus der Akte werden sodann „Anknüpfungstatsachen“ entnommen. Vermeiden Sie den Anschein, Sie würden lediglich Aktenauszüge anfertigen. Diese Praxis ist bei Auftraggebern verpönt und wird oft ausdrücklich untersagt: (Richterin zu Gutachterin: „Akten lesen kann ich selbst“). Sie müssen daher Ihr Aktenstudium, soweit Sie dies überhaupt schriftlich niederlegen wollen, als eine „Auswertung“ der Akte unter „psychologischen Gesichtspunkten“ konzipieren und bezeichnen. Dieser Auswertungsprozess dient dann im nächsten Schritt der Generierung von psychologischen Fragen, bzw. Arbeitsaufträgen an die weiteren Untersuchungen. In der späteren Diskussion werden Sie diese Fragen wieder aufrufen und dann Punkt für Punkt beantworten müssen. Bedenken Sie also, dass sie hier keine Fragen (der bloßen Vollständigkeit halber oder einer Vorlage gehorchend) formulieren, zu denen es hinterher nichts zu sagen gibt. In unserem Blog Nr. 11 über die wichtigsten Kriterien, die den Outcome des Gutachtens bestimmen, werden die Bereiche, die mit den psychologischen Fragen eingekreist werden müssen, näher dargestellt. Die Sachverhalte sind in Wirklichkeit aber so heterogen, dass Sie auch innerhalb desselben Rechtsgebietes (Umgang, elterliche Sorge, Kindeswohlgefährdung) die Fragen immer wieder neu variieren und passend umformulieren müssen.


Eine grobe Orientierung bietet diese Aufstellung:

  • Entwicklungsbezogene Ausgangslage mit Bindungen und anderen Beziehungen des Kindes

  • (eventuell) kindliche Psychopathologie und Vulnerabilität, (eventuell) kindliche Grundbedürfnisse

  • Kindeswille – genauer: Erleben des Kindes, seine Sichtweise, Positionen, Neigungen und Bedürfnisse, explizite Willensbekundungen

  • (eventuell) Persönlichkeiten und Pathologie der Eltern (einzeln und in Kollusion) und deren Auswirkungen auf das Kindeswohl

  • Erziehungsverhalten und Erziehungseignung der Eltern

 

Als Nächstes müssen Sie auflisten, welche Untersuchungen (Explorationen der Eltern und Kinder, Interaktionsbeobachtungen, Testuntersuchungen) Sie durchgeführt haben und welche zusätzlichen Informationsquellen (telefonische Befragung Dritter z.B. Lehrer, Erzieher, Familienhelfer etc.) Sie genutzt haben, gegebenenfalls auf welche Probleme Sie bei der Durchführung ihres Untersuchungsplans gestoßen sind - beispielsweise durch Absagen, besondere Vorkommnisse oder Weigerungen. Fügen Sie jedem Untersuchungsschritt eine kurze Begründung an, zu welchem Thema er Ihnen Aufschluss bringen sollte. Alle Untersuchungen müssen mit Datum und minutengenauer Zeitdauer aufgeführt werden.

Am Ende des methodischen Teils (eventuell auch später bei den Explorationen) können Sie dokumentieren, dass die Probanden über die Freiwilligkeit der Begutachtung und das Fehlen der Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem Auftraggeber aufgeklärt wurden und – wenn das der Fall war – mit einer Aufzeichnung der Explorationen mit Tonband / Videokamera einverstanden waren.



Mittelteil (Protokolle und Ergebnisse)


Dieser Teil des Gutachtens dient (ausschließlich!) der Protokollierung von Datenerhebungen. Er sollte, um Missverständnissen vorzubeugen, vollkommen frei sein von Bewertungen und Einschätzungen der Verfasser. Jegliche Kommentierung, Einstufung und Einordnung von Ergebnissen oder Anwendung auf die Fragestellung des Auftrags bleibt dem letzten Teil des Gutachtens vorbehalten.

Die Explorationen mit den Beteiligten erstrecken sich oft über viele Stunden. Sie sind methodisch nicht verpflichtet, den genauen Wortlaut der Gespräche aufzuzeichnen. Es steht ihnen frei und wird sogar dringend empfohlen, die Einlassungen der Parteien nur selektiv aufzuzeichnen, mit dem Ziel, eventuell neue bislang nicht aktenkundige Einlassungen festzuhalten, oder mit dem Ziel, die Argumentationsweise einer Partei zu verdeutlichen. Diese Beschränkung erfordert methodische Disziplin.


Besonders in den finalen Gesprächen mit den Parteien, nachdem sich bereits eine Tendenz abzeichnet, werden – dem Gebot der Lösungsfindung folgend – von den Parteien nicht mehr nur Daten erhoben, sondern mit ihnen dialogische Gespräche geführt. Die Gutachter geben ein eigenes Input und erkunden, wie die Parteien reagieren. Dieser dialogische Prozess liegt außerhalb der hier gemeinten Methode des Protokolls, in dem einseitig nur Angaben der Parteien protokolliert werden sollten. Der Verlauf lösungsorientierter Gespräche muss an anderer Stelle des Gutachtens nachgezeichnet werden, (oft im Anhang an das eigentliche Gutachten).


Legen Sie, außer wenn Sie eine Polemik beispielhaft illustrieren wollen, den Schwerpunkt des Protokolls auf Inhalte, wo sich die Parteien über sich selbst äußern. In der späteren Diskussion können Sie Ihr kritisches Urteil über einen Elternteil – außer mit eigenen Beobachtungen - am besten mit Äußerungen begründen, die dieser Elternteil über sich selbst gemacht hat, meist nicht mit Kolportage der Gegenpartei, außer wenn Sie sich von der Richtigkeit der Kolportage aus eigener Anschauung überzeugen konnten.  Verfassen Sie die Protokolle in indirekter Rede, d.h. im Konjunktiv, um klarzustellen, dass nicht Sie, die Verfasser des Gutachtens, die Urheber der Inhalte sind, sondern hier lediglich andere zitiert werden.


Eventuelle Testergebnisse stellen sie bitte so dar, dass sie nicht bereits Interpretationen in Hinblick auf die gerichtlich gestellten Fragen enthalten. Dies würde dem gängigen Missverständnis Nahrung geben, dass man aus einzelnen Testergebnissen komplexe gutachtliche Empfehlungen ableiten könnte.

Das gleiche Gebot gilt für die Protokollierung des Ablaufes der Interaktionsbeobachtungen bzw. strukturierter Spielbeobachtungen und anderer (freier) Verhaltensbeobachtungen bei Kindern und Eltern. Die tatsächliche Widergabe wörtlicher Aussprüche und Kommentare empfiehlt sich am ehesten bei den Explorationen der Kinder.


Für die Protokolle über die Befragung Dritter gilt wiederum, dass diese keinesfalls den vollständigen Diskurs abbilden müssen, den Sie während der Telefonate geführt haben. Beschränken Sie sich auf die Widergabe jener Informationen, um derentwillen Sie die jeweilige Fachperson kontaktieren wollten. Die Informationen handeln in der Regel vom Befinden und Verhalten von Kindern oder Eltern und deren Kooperation mit Helfern und Funktionsträgern. Ignorieren sie ungefragte Meinungsäußerungen dieser Personen zum Inhalt und Ausgang des Rechtstreits.



Schlussteil (Befund bzw. Diskussion bzw. Beurteilung)


Nun ist der Zeitpunkt gekommen, Ihre eigenen Gedanken und Überlegungen zu entwickeln, und alles, was sie erhoben haben, einer Bewertung und Interpretation zu unterziehen. Zuerst müssen sie sich mit diesem Vorhaben nochmals ihren vorausgegangenen Untersuchungsergebnissen widmen.  Sie können die Interaktionen und das Verhalten der Beteiligten (unter Anwendung von Beurteilungsschemata) interpretieren und auch ihre Beobachtungen zum Verhalten der Eltern (während der Explorationen) anbringen oder gegebenenfalls sogar einen psychischen Befund über Eltern oder Kind verfassen.


Sodann bilden die zu Beginn formulierten psychologischen Fragen das Rückgrat der weiteren Diskussion. Diese Fragen müssen Sie nun Punkt für Punkt beantworten. Wenn Sie beim Schreiben bemerken, dass das Material zu einzelnen dieser Fragen zu umfangreich ist und die Überlegungen hierzu den Rahmen einer einfachen Beantwortung sprengen, können Sie außerhalb der „psychologischen Fragen“ mehrere weitere Diskussionskapitel anfügen. Dies wird besonders oft notwendig, wenn komplex auffälliges Verhalten der Eltern beschrieben und eingeordnet werden muss oder wenn die elterliche Kollusion in ihrer Wirkung auf Kinder umfangreich beschrieben werden muss oder wenn ein Kind sehr komplexe und nicht sogleich offenkundige Überlegungen darüber anstellt, wie es sich im Konflikt seiner Eltern verhalten soll. Ein weiteres Thema, das gerne aus den psychologischen Fragen ausgelagert und in einem separaten Kapitel erörtert wird, betrifft die Abwägung verschiedener Optionen für Lösungen, die Gewichtung der Kriterien und die Argumente für eine bestimmte Lösung, wenn alle Lösungen eigentlich „schlecht“ sind. Hierbei bewährt es sich, statt der Vorzüge bestimmter Optionen deren Risiken zu beleuchten. (Es fordert das kritische Denken stärker heraus, Risiken gegeneinander abzuwägen, als sich von Hoffnungen leiten zu lassen).


Den Abschluss jedes Gutachtens bildet die kurze, lediglich zusammenfassende, Beantwortung der von Gericht gestellten Fragen. Führen Sie die gerichtlichen Fragen nochmals im Wortlaut auf und beantworten sie diese Punkt für Punkt. Vermeiden Sie es, Ihre Überlegungen nochmals in aller Ausführlichkeit auszubreiten. Falls Sie es zuvor versäumt haben, diese darzulegen, ist es an dieser Stelle zu spät dies nachzuholen. Sie sollten hier nicht noch einmal in das Für und Wider einzelner Argumente einsteigen. Rekapitulieren sie nur noch ein letztes Mal die „Big Points“, die ihnen geholfen haben, zu Ihrer Empfehlung zu gelangen. Verwenden sie nun auch erstmals juristische Konstrukte und Begrifflichkeiten, die in der Fragestellung des Gerichts aufgeführt sind (Kindeswohl) und nähern sich insoweit dem juristischen Denken an.


Im Anhang des Gutachtens können sie gegebenenfalls referieren, ob es Einigungsgespräche gegeben hat und zu welchen (vorläufigen) Ergebnissen diese geführt (oder nicht geführt) haben oder aus welchen Gründen Sie auf Einigungsgespräche verzichtet haben. Ebenfalls in den Anhang des Gutachtens können alle Dokumente aufgenommen werden, die von den Parteien oder von beteiligten Dritten während der Begutachtung vorgelegt wurden. Alternativ kann man diese Dokumente bereits während der laufenden Begutachtung dem Gericht digital zusenden, damit sie der Gerichtsakte hinzugefügt werden.


In ihr Literaturverzeichnis nehmen sie bitte nur Titel auf, die in Ihrem Gutachten auch tatsächlich erwähnt oder zitiert wurden.


Unterschriften


Schließlich unterzeichnet der/die Sachverständige das Gutachten. Ist der/die Sachverständige an einer Klinik beschäftigt oder arbeitet in einem Gutachterverbund, so kann es sein, dass ursprünglich ein anderer dem Gericht namhaft bekannter Gutachter (bzw. Gutachterin) beauftragt worden war und der/diejenige, die die Untersuchungen durchgeführt und das schriftliche Gutachten verfasst hat, vom Gericht nachträglich benannt werden muss. Diese Person unterzeichnet das Gutachten "hauptverantwortlich" auf der linken Seite. Sofern diese Person die Ergebnisse und Schlussfolgerungen mit einem Supervisor (ml. oder wbl.) beraten hat und diese/r das schriftliche Gutachten gegengelesen hat, unterschreibt die Supervisorin das Gutachten auf der rechten Seite mit dem Vermerk "für Beratung und Supervision". Ein Chefarzt oder eine Chefärztin als ursprüngliche Empfänger des Auftrags erfüllen in der Regel die Rolle der Supervision und unterschreiben: „einverstanden aufgrund eigener Urteilsbildung“. In Kliniken besteht die Besonderheit, dass die Chefärzte oft die einzigen zur Liquidation berechtigten Personen sind und die Rechnungen treuhänderisch für ihre Mitarbeiter stellen müssen. Wenn sie über die Supervision hinaus auch an einzelnen Untersuchungen mitgewirkt haben, muss dies im Methodenkapitel des Gutachtens spezifiziert werden.


Liquidation


Die Rechnungslegung erfolgt nach JVEG, die allerdings in manchen Aspekten (z.B. was die Berechnung des Zeitaufwandes für die schriftliche Abfassung des Gutachtens betrifft) recht unscharf gefasst ist. Der Kostenansatz für tatsächliche Untersuchungen und Gespräche und für eine eventuelle Anreise zu einem Untersuchungsort bemisst sich hingegen nach dem genauen zeitlichen Aufwand, der minutengenau anzugeben und dezimal auf 2 Nachkommastellen umzurechnen ist. Die schriftlichen Leistungen orientieren sich nicht an der tatsächlich eingebrachten Arbeitszeit, sondern an einem angenommenen mittleren Aufwand. Über die Vorgaben der JVEG hinaus (1. Ausarbeitung 2. Diktat und Korrektur) empfiehlt sich besonders bei umfangreichen Gutachten eine weitergehende Aufschlüsselung der Stunden, z.B. für methodische Vorüberlegungen, Protokolle und Testergebnisse einerseits und Auswertungen, Diskussionen und Beurteilungen andererseits. Der Entschädigungsaufwand muss auf der Rechnung nachvollziehbar dargestellt werden und entweder mit der Zahl der geschriebenen Seiten oder der Zahl der Zeichen korreliert werden. Abschnitte des Gutachtens, die lediglich referierenden Charakter haben oder formalisierte Befunde wiedergeben, müssen geringer gewichtet werden als Textabschnitte, bei denen eigenständige geistige Leistungen in Form von Bewertungen, Überlegungen und Abwägungen erbracht werden, die hochindividuell und nicht normiert sind und sich nicht an vorgefertigten Schemata orientieren oder einem Algorithmus gehorchen. Diese Kriterien treffen auf den Diskussionsteil familienrechtlicher Gutachten zu.



Bekanntgabe der Ergebnisse


Generell im Zivilrecht haben schriftlich verfasste Stellungnahmen eine besondere Verbindlichkeit. Vor Abfassung des schriftlichen Gutachtens kann, zu dessen Erläuterung, ein mündliches Auswertungsgespräch angeboten werden, das beide Parteien gemeinsam wahrnehmen sollten. Dies entspricht den Anforderungen des FamFG, das vorsieht, dass Gutachter auf eine Einigung der Parteien hinwirken sollen. In diesem Gespräch können den Parteien Eindrücke und Befunde mitgeteilt werden. Allerdings kommen solche gemeinsamen Gespräche aufgrund der hochkonflikthaften Situation, die den Anlass für die Begutachtung bildete, oft nicht zustande, so dass die gutachterliche Empfehlung die Parteien oft erst über das schriftliche Gutachten erreicht. Sofern die schriftliche Eröffnung des Ergebnisses mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gefährdung des Kindeswohls nach sich ziehen würde, muss in seltenen Fällen die Bekanntgabe des Ergebnisses bis zu einer Gerichtsverhandlung aufgeschoben werden.


Umfang der Gutachten und Sprachstil


Die Qualität eines schriftlichen Gutachtens bemisst sich nicht nur danach, ob den formalen (in wiss. Publikationen geforderten) Ansprüchen Genüge getan wurde. Die Fragestellungen und die familiären Konfliktlagen sind oft so komplex, dass es keinen „one best way“ gibt. Es bedarf immer einer individuellen Untersuchungsplanung. Daher fällt Kritik an Gutachten leicht. Unterschiedliche Sachverständige wählen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch unterschiedliche Vorgehensweisen. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Gutachten so abgefasst sind, dass nicht nur der gerichtliche Auftraggeber, sondern auch die betroffenen Parteien für sich einen Erkenntnisgewinn daraus ziehen können. Sachverständige müssen trotz professioneller Darstellung also darauf achten, für alle Beteiligten lesbar und verständlich zu bleiben. Zu viel „Fachchinesisch“ ist eher nachteilig.

Sogar "diplomatische" Überlegungen können in der Abfassung des schriftlichen Gutachtens eine Rolle spielen. Die Parteien können das Ergebnis des Gutachtens besser verdauen und konstruktiver anwenden, wenn alle Ausführungen über problematische Eigenschaften der Parteien so wertschätzend und so selektiv wie möglich formuliert werden und den Konflikt nicht unnötig weiter befeuern. Vor allem Kritik am Verhalten jener Partei, die im Rechtsstreit mit ihren Anliegen nicht zum Zuge gekommen ist, sollte sich auf Aspekte beschränken, die zielführend und für die gutachtliche Empfehlung ausschlaggebend waren. Etwas offener lassen sich Kritikpunkte bei jener Partei ansprechen, die voraussichtlich mit den Empfehlungen des Gutachtens zufrieden sein wird. Diese Partei wird sich gegen die vorgebrachte Kritik nicht sträuben, weil sie sich trotzdem verstanden und angenommen fühlt.


Das Prinzip, den unterlegenen Elternteil im schriftlichen Gutachten mit Kritik zu verschonen, kann nicht immer durchgehalten werden. Es scheitert beispielsweise, wenn das Gutachten einem Elternteil, der wegen seines Verhaltens stark in der Kritik steht, trotzdem zutraut, sich weiterhin um ein Kind zu kümmern, obwohl ein getrennter Elternteil oder sogar ein Jugendamt dieses Kind lieber herausgenommen hätte. Hier kommen die Verfasser des Gutachtens nicht umhin, Farbe zu bekennen, dass der andere Elternteil nicht minder auffällig sei, um zu verdeutlichen, dass das Kind bei einem Wechsel nur von einer schlechten in die nächste ebenso schlechte Situation wechseln und obendrein auf die Barrikaden gehen würde.


Die Sachverständigen sollten nur das beantworten, was sie gefragt wurden – nichts darüber hinaus! Auch wenn ausdrücklich nach psychiatrischen Diagnosen der Eltern gefragt wird, sollten die Verfasser kinderpsychologischer Gutachten möglichst darauf verzichten, Diagnosen in den Raum zu stellen, auch wenn sie kraft ihrer therapeutischen Ausbildung (Approbation) hierzu berechtigt wären. Sie sollten sich auf Verhaltensbeschreibungen beschränken.

Wenn sich ein Familiengericht ausdrücklich nach Diagnosen erkundigt, oft, um einen Streitpunkt zwischen den Parteien abzuräumen, kann erwidert werden, dass die Vergabe diagnostischer Kategorien nicht geeignet sei, um die wirklich zielführende Frage aufzuklären: wie bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen der Eltern im Zusammenwirken mit einem Kind erlebt und verarbeitet werden, wie sich dieses Erleben in der kindlichen Psyche niederschlägt und wie es sich auf die weitere Entwicklung auswirkt.


Beim Verfassen der gutachtlichen Texte wird (siehe oben) davon abgeraten, Bemerkungen über das Verhalten der Parteien bereits an den Anfang des Dokuments zu setzen, etwa im Vorspann zu den Protokollen. Was nur eine stilistische Formfrage zu sein scheint, kann bereits unnötigen Argwohn wecken, dass die GutachterIn vor Beginn der Gespräche ein fertiges Bild von den Eigenarten der Person und vom Gesamtergebnis gehabt haben könnte. In Wirklichkeit legt die/der GutachterIn ja Eindrücke nieder, die sich erst im Laufe der Untersuchungen schrittweise ergeben haben und gibt einzelnen Testergebnissen erst dann eine besondere Gewichtung, wenn sich diese am Ende in eine Gesamtschau einfügen, nicht weil dem einzelnen Test schon eine durchschlagende Beweiskraft innewohnen würde. Die saubere Trennung von Protokollen und deren gutachtlicher Einschätzung erfordert Disziplin beim Schreiben.

Sachverständige sollten sich beim Formulieren ihrer Text nicht nur in die Interessenlage der RichterInnen als Leser hineinversetzen, - diese lesen bestimmt als erstes die Zusammenfassung -, sondern auch in die Lage der tief involvierten Parteien, denen das Gutachten ebenfalls zur Lektüre überlassen wird. Im Rahmen ihrer Supervision müssen die Sachverständigen bereit sein, Ihren Text nochmals umzuformulieren und neu anzuordnen.


Am Ende der Gutachten sollte das Fazit trotz des Anspruchs auf Klarheit nur als „Empfehlung“ bezeichnet werden. Durch die Wortwahl kommt zum Ausdruck, dass der/m Sachverständigen bewusst ist, dass die RichterInnen am Ende ihre Entscheidung nach eigenem Ermessen zu treffen haben[1] und dass die schriftlichen Gutachten lediglich den Status von Beweismitteln haben.

[1] Nicht: Diese oder jene Maßnahme „soll“ oder „muss“ vollzogen werden, sondern: "Es wird empfohlen, dass …."


Kritik am schriftlichen Gutachten


Wenn Kritik an den schriftlichen Gutachten geübt wird, „verhaken“ sich die Parteien nicht selten an Einzelheiten, die für die Entscheidungsfindung nicht relevant waren, sogar an Zitaten der gegnerischen Partei, die mit den im Gutachten angestrengten Überlegungen nichts gemein haben. Besonders umfangreiche Versuche, Gutachten in Zweifel zu ziehen, bedienen sich fachlicher Gegenstellungnahmen durch andere Experten. Wie oben beschrieben, sind die Fragestellungen und die familiäre Gemengelage so komplex, dass jeder Gegengutachter im Auftrag einer Partei zu der Behauptung gelangen kann, die Methodik hätte anders angelegt werden können. Die Kritik erfolgt meist nach einem standardisierten Raster von Prüfkriterien, verfehlt jedoch den Nachweis, ob ein methodisch gemäß der Kritik verändertes Gutachten zu einem vollkommen anderen Ergebnis gelangt wäre. Eine Argumentation, die dahin geht, dass zusätzliche oder andere Methoden besser gewesen wären bzw. eine andere Vorgehensweise möglich gewesen wäre, versteht sich von selbst. Ein solcher theoretischer Methodenstreit ist abseits konkreter Fallkenntnis wenig zielführend. Die Vorwegnahme dieser Kritik, darf Gutachter nicht dazu verleiten, vorsorglich immer aufwändigere Methoden einzusetzen, um solcher Kritik zuvorzukommen. Gutachter sind gehalten, ökonomisch zu arbeiten und die Untersuchungen auf einen Umfang zu beschränken, der zur Erkenntnisgewinnung ausreichend erscheint.

Mehr zum Thema

Mit dem Ziel, auf ein Einvernehmen der Parteien hinzuwirken, schlagen wir bisweilen vor, das Gutachten nicht schriftlich, sondern zunächst mündlich in der Verhandlung zu erstatten. Das Gericht und die Parteien haben, wenn diesem Vorschlag stattgegeben wird, unmittelbar die Möglichkeit, Fragen zu klären und Missverständnisse auszuräumen. Die Prozessbevollmächtigten sind anwesend, und der Sachverständige kann sich direkt an alle Beteiligten wenden und diese in seine Ausführungen einbeziehen. Oft ist ein vorab verfasstes schriftliches Gutachten, seinem hohen Umfang zum Trotz, nicht geeignet, individuelle Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Schriftlich verfasste Empfehlung werden den Parteien in gewisser Weise „übergestülpt“. Mehr Kongruenz unter den Parteien kann beispielsweise erreicht werden, wenn Probephasen mündlich vereinbart werden. In einer mündlichen Verhandlung kann ein offener Prozess in Gang gesetzt werden, dessen Ergebnis im schriftlichen Gutachten präjudiziert worden wäre. An den verhandlungsleitenden Richter stellt dieses Vorgehen allerdings eine erhöhte Anforderung im Sinne der Verfahrensmoderation. Die Verfahrensdauer verlängert sich. Wenn zu guter Letzt in der Beschwerdeinstanz allen vorherigen Einigungstendenzen zum Trotz ein Beschluss ergehen muss, wird ein (nachträgliches) schriftliches Gutachten unumgänglich.


Kommunikation zwischen Familiengericht und Sachverständigen


FamilienrichterInnen sollten sich im Allgemeinen bei der Formulierung der Aufträge an die Sachverständigen auf Fragen beschränken, die aus den gesetzlichen Vorgaben abgeleitet sind. Die Ausarbeitung der jeweils relevanten psychologischen Fragestellungen sollte den Sachverständigen überlassen bleiben. Dieser Rat gilt unbeschadet der Tatsache, dass Juristen und klinisch therapeutisch ausgerichtete Professionen Schnittstellen und Ebenen schaffen müssen, auf denen sie sich sprachlich und begrifflich begegnen und gemeinsam arbeiten können. Dies sollte aber weder dahin ausufern, dass Gutachter ihre Kriterien bereits eng an den gesetzlichen Vorgaben orientieren, ohne dass bereits klar ist, ob einige dieser Vorgaben überhaupt relevant sein werden, noch dass Juristen einen Kanon psychologischer Prüfkriterien vorgeben, ohne dass bereits klar ist, ob einige dieser Kriterien psychologisch überhaupt relevant sein werden.

In der Zusammenarbeit der Professionen ist das unvermeidbare Dilemma zu besichtigen, dass sich erfahrungswissenschaftlich ausgebildete Berufe schwer in das „nomothetische“ Axiom der Jurisprudenz eindenken können und selbstverständlich stets von der Mehrdeutigkeit psychischer Phänomene ausgehen. Dennoch dürfen die juristische Auftraggeber erwarten, dass sich der/die ExpertIn am Ende zu konkreten Empfehlungen durchringt, die sich auch in juristische Entscheidungen umsetzen lassen. Es ist eine bekannte Schwäche psychologischer GutachterInnen, dass sie bis zum Schluss ihres Gutachtens nicht aufhören können, ihre wichtigsten Argumente hin- und herzuwenden.


Einzuräumen ist, dass sowohl GutachterInnen wie RichterInnen, die in die Domäne des anderen Berufs eindringen, hierzu oft gute Gründe haben und der Sache einen Gefallen tun. Ein/e erfahrene/r GutachterIn kann einer/m unerfahrenen RichterIn anhand seiner/ihrer Argumente den geeigneten juristischen Verfahrensweg vorzeichnen. Ein/e erfahrene/r RichterIn kann einen verschwommen formulierenden oder unerfahrenen Gutachter mit der Vorgabe psychologischer Fragen dahin führen, dass dieser ein klares, besser verwertbares Ergebnis abliefert. Solche Vorstöße an das andere professionelle Ufer sind also nicht automatisch zum Nachteil der Parteien, sondern können am Ende die Qualität der richterlichen Entscheidung verbessern.


GutachterInnen, die noch wenig Erfahrung im Umgang mit juristischen Aufträgen sammeln konnten, sollte zwar die Bereitschaft mitbringen, die erwähnten Erwartungen der Justiz zu erfüllen. Sie müssen aber nicht so weit gehen, ihren Auftraggebern trügerische Gewissheit eines Ergebnisses zu bieten, wenn es diese Gewissheit, wie oft, überhaupt nicht gibt. Auch juristische Auftraggeber wollen ins Bild gesetzt werden, welche Widersprüche, Zweifel und Dilemmata bei einer Entscheidung zu überwinden waren.

Am Ende erwartet das Gericht jedoch in der Tat, dass Gutachter eine Tendenz erkennen lassen. Sonst wäre der Gutachtenauftrag vollkommen umsonst gewesen. Letztlich müssen sich forensisch tätige Psychologen, Therapeuten und Psychiater fragen lassen, ob Sie damit leben können, dass im Rahmen der forensischen Tätigkeit einige Prinzipien, die sonst Ihre Arbeit ausmachen, außer Kraft gesetzt werden.




 
 
 

コメント


コメント機能がオフになっています。
bottom of page